Die Kirchenaustritte in der katholischen Kirche unter dem Mikroskop

19. Nov. 2020

Urs Winter-Pfändler


1. Übersicht über das Jahr 2019

Im Jahr 2019 sind 31’772 Personen aus der katholischen Kirche ausgetreten, das sind mehr Menschen als jemals zuvor innerhalb eines Jahres gezählt wurden(1). Damit haben im vergangenen Jahr nochmals rund ein Viertel mehr Menschen die katholische Kirche verlassen als im Jahr 2018 (25’366). Die Austrittsrate beträgt über die Gesamtschweiz berechnet durchschnittlich 1.1%. Auffällig sind die kantonalen Unterschiede. So verzeichnen die Kantone Genf, Wallis, Neuenburg und Waadt praktische keine Austritte, ein Umstand, welcher sich durch die unterschiedlichen Kirchensteuersysteme erklären lässt. In den genannten Kantonen der Westschweiz entfällt das Motiv des Kirchenaustrittes, um Steuern zu sparen.
Rechnet man diese Kantone (NE, GE, VS, VD) aus der Statistik heraus, so ergibt sich eine durchschnittliche Austrittsquote von 1.4%. Dieser Wert ist ähnlich wie derjenige der umliegenden Länder (Deutschland: 1.2%, Österreich: 1.3%). Auch in diesen Ländern haben die Austrittszahlen in den vergangenen Jahren zugenommen.
In der Schweiz steht, kantonal betrachtet, der Kanton Basel-Stadt an der Spitze mit einer Austrittsquote von 4.9%, gefolgt von den Kantonen Aargau (2.2%) und Solothurn (2.1%). Am anderen Ende (ohne die Kantone NE, GE; VS, VD) der Skala stehen Kantone wie Appenzell-Innerrhoden (0.5%) oder der Kanton Jura (0.8%) oder Uri (0.9%), d.h. katholisch geprägte Landkantone.
In demselben Zeitraum (2019) sind 885 Personen in die Kirche eingetreten (Eintrittsrate ohne die Kantone NE, GE, VS, VD sowie Kantone ohne Angaben: 0.04%). Das Verhältnis zwischen Ein- und Austritten beträgt somit etwa 1:34. Die höchste Eintrittsrate verzeichnet wiederum der Kanton Basel-Stadt (Eintrittsrate 0.5%). Hier beträgt das Verhältnis zwischen Ein- und Austritten lediglich 1:10.

 

2. Die St. Galler Austritte unter dem Mikroskop

Wer tritt aus der katholischen Kirche aus? Um sich dieser Frage anzunähern, wurden Daten aus dem Kanton St. Gallen im Längsschnitt analysiert, denn der Kanton St. Gallen erfasst seit vielen Jahren verlässlich und zuverlässig Daten zu den soziodemographischen Merkmalen der Ausgetretenen wie Alter, Geschlecht oder Zivilstand. Die Ergebnisse aus dem Kanton St. Gallen dürften die Situation in vielen Kantonen der Deutschschweiz widerspiegeln.

Grundsätzlich lässt sich im Kanton St. Gallen wie in vielen Kantonen ein klarer Trend steigender Austrittszahlen beobachten (2019: 3393 Personen), währenddessen die Eintrittszahlen auf konstant tiefem Niveau blieben (2019: 60 Personen) (Grafik 1) (2).

Dabei zeigen sich neben einer leicht wachsenden Sockelerosion anlassbezogene Austrittswellen. Eine erste dieser Wellen beobachtet man im Jahr 2010 im Zusammenhang rund um die Diskussion zu den Piusbrüdern und erste Meldungen zu den Missbrauchsskandalen. Ein zweiter steiler Anstieg ist in den vergangenen Jahren zu erkennen. Die Berichte über Missbräuche an Kindern, Jugendlichen, Frauen und Männern haben das Vertrauen in die katholische Kirche erschüttert. Dazu kamen/kommen öffentliche Debatten um die Sexualmoral der Kirche, um den Zugang wiederverheirateter Geschiedener zum Empfang der heiligen Kommunion oder um die Stellung der Frau innerhalb der Kirche. All dies führte zu stark steigenden Zahlen.
In diesem Zusammenhang lässt sich fragen: Gewinnt der Kirchenaustritt durch die zunehmende Zahl an Männern und Frauen, welche die Kirche verlassen in der breiten Bevölkerung an sozialer Akzeptanz? Vom ausserordentlichen Schritt zu etwas «Normalem»?

 

2.1 Austritte aufgeschlüsselt nach soziodemographischen Faktoren

Schlüsselt man die Austrittszahlen nach demographischen Faktoren auf, ergeben sich die Ergebnisse wie in den Grafiken 2-4 dargestellt:


Zivilstand:
Ca. 50% der Ausgetretenen sind ledig, gefolgt von verheirateten Personen (ca. 35%). Die Verteilung nach Zivilstand blieb über die vergangenen Jahre konstant.

Geschlecht:
Auch hier zeigt sich eine konstante Verteilung über die Zeit, wobei etwas mehr Männer die Kirche verlassen als Frauen.

Alter:
Während die jüngste und älteste Alterskategorie im Längsschnitt konstant blieb, stieg der Anteil bei den 51-65jährigen in den vergangenen neun Jahren an. Dabei muss mitberücksichtigt werden, dass sich das Durchschnittalter in der Schweiz in den vergangenen Jahren etwas nach oben bewegt, was einen Teil dieses Trends zu erklären vermag. Gleichwohl: während im Jahr 2011 16% aller Ausgetretenen zwischen 51-65 Jahre alt waren, waren es im Jahr 2019 24% (+ 8%).


2.2 Fazit und Herausforderungen für die Kirche

Einerseits bestätigen die Ergebnisse aus St. Gallen viele Studien zum Kirchenaustritt: Eine grössere Austrittsneigung haben u.a. Männer, Ledige und jüngere Menschen (i.d.R. zu Beginn der Berufstätigkeit). Dies führte zu einer strukturellen Übervertretung älterer Generationen bei der Kirchenmitgliedschaft.
Der Befund, dass der Anteil der 51-60jährigen steigt, lässt jedoch aufhorchen. Ist es möglich, dass derzeit ein intergenerationeller Lern- oder Sozialisierungseffekt von den Jungen zu den Älteren stattfindet, die zunehmend ihre Kirchenbindung abbrechen? Werden die jungen Austretenden, d.h. die erwachsenen Töchter und Söhne, zu Rollenvorbildern für ihre Elterngeneration? Und wird schliesslich der Kirchenaustritt durch diese Veränderung zunehmend breiter sozial akzeptiert und gesellschaftsfähig?

Ein Blick in die Daten der Stadt Zürich unterstützt die Vermutung (vgl. Grafik 5). Die allermeisten Austritte erfolgen im Alter zwischen 25 und 35 Jahren. Vergleicht man die prozentuale Verteilung der Austritte innerhalb der Alterskategorien zwischen den Jahren 2016 und 2019 so zeigt sich, dass im Jahr 2019 die älteren Alterskategorien stärker vertreten sind als im Jahr 2016. Das Alter der Menschen, welche die katholische Kirche verlassen, scheint daher anzusteigen.


Anmerkung zur Grafik:
Das statistische Amt der Stadt Zürich verfolgt die Wanderungen zwischen den drei Kategorien “römisch-katholisch”, “evangelisch-reformiert” sowie “andere / ohne / unbekannt”. In der Grafik sind die Bewegungen von römisch-katholisch zu “andere / ohne / unbekannt” abgebildet. Von Kirchenaustritten wird in der Annahme gesprochen, dass die allermeisten dieser Menschen konfessionslos werden und sich nicht einer anderen Religion anschliessen.

Neben dem Wiederaufbau von verloren gegangener Glaubwürdigkeit und Ansehen, um diesen Trends entgegen zu wirken, ist die Kirche gefordert, eine treue und verlässliche Wegbegleiterin im Leben der Menschen zu sein: In der Familienphase gilt es für eine gute und nachhaltig positiv erlebbare Begleitung von Familien mit Kindern und Jugendlichen zu sorgen. Ebenso wichtig ist ein Ausbau der kirchlichen Angebote für junge Erwachsene, die wenig Gelegenheiten finden, die Kirchenbindung ihrer Kinder- und Jugendzeit fortzuführen (z.B. Anschlussprojekt Firmung 18+). Schliesslich gilt es aber auch Paare nach der Familienphase bzw. kinderlose Paare und Ledige/Verwitwete jenseits von Familienthemen religiös zu erreichen.
Die Kirchen sind gefordert, angesichts der anstehenden Aufgaben im Bereich der Mitgliederbindung ihre pastoralen Prioritäten und den entsprechenden Mitteleinsatz zu überprüfen und anzupassen.

 

3. Vergleich mit der evangelisch-reformierten Kirche

Dass nicht alle Probleme der katholischen Kirche «hausgemacht» sind, sondern derzeit ein grundsätzlicher Wandel der kirchlichen Zugehörigkeit stattfindet, zeigt ein Vergleich mit der evangelisch-reformierten Kirche. Denn das Bild der evangelisch-reformierten Kirche ähnelt dem der katholischen Kirche. Im Jahr 2019 sind 26’198 Menschen aus der evangelisch-reformierten Kirche ausgetreten. Gegenüber dem Jahr 2018 erlebte die evangelisch-reformierte Kirche eine Zunahme der Austritte um 18%. An der Spitze liegt wiederum Basel-Stadt (Austrittsquote: 3.5%), gefolgt von Solothurn und Uri (mit jeweils 2.5%). Die Anzahl Mitglieder der evangelisch-reformierten Kirche im Kanton Uri ist jedoch so gering (1’722 Personen), dass Austritte von einzelnen Familien samt ihrem engeren Umfeld die Statistik stark beeinflussen. Insgesamt beträgt die Mitgliederzahl der evangelisch-reformierten Kirche Ende 2019 ca. 2 Millionen Mitglieder (Ende 2018: 2.15 Millionen). Im Vergleich dazu lebten Ende 2019 ca. 3.1 Millionen Katholik*innen gemäss Angaben der Kantonalkirchen und Bistümern in der Schweiz (Ende 2018: 3.18 Mio).

 

4. Datenquellen und verwendete Literatur

4.1 Datenquellen

  • Evangelisch-Reformierte Kirche Schweiz (EKS): Angaben zu den Austritten und Mitgliederzahlen der evangelisch-reformierten Kirche
  • Kantonalkirchen / Bistümer: Angaben zu den Ein- und Austritten sowie den Mitgliederzahlen der katholischen Kirche.
  • Katholischer Konfessionsteil des Kantons St. Gallen: Angaben zu den Aus- und Eintritten, Mitgliederzahlen sowie den demographischen Angaben der Ausgetretenen.
  • Statistik Stadt Zürich / BVS: Angaben zu den Konversionen aus der katholischen Kirche zur Kategorie “andere / ohne / unbekannt”.

4.2 Verwendete Literatur

  • Stolz, J., & Englberger, T. (2014). Kirchen, Freikirchen und alternativ-spirituelle Anbieter. In J. Stolz, J. Könemann, M. Schneuwly Purdie, T. Englberger & M. Krüggeler, Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-)Glaubens (S. 127–149). Zürich: Theologischer Verlag Zürich.

Anmerkung: (1) Aus den Kantonen Basel-Land und Tessin liegen keine Angaben zu den Ein- und Austritten, aus dem Kanton Jura keine Angabe zu den Eintritten vor.
(2) Bei den Trendlinien handelt es sich um lineare Regressionsgeraden.

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